Rückblick

Weil nicht sein kann, was nicht sein darf:
Ein historischer Rückblick auf den Umgang mit Psychischer Traumatisierung
(Raimund Dörr, in: Soziale Arbeit, 30. Jahrgang, Nr.3, Februar 1998, s. auch Fachartikel)

Die Geschichte des Umgangs mit psychischer Traumatisierung ist eng verbunden mit gesellschaftlichen Entwicklungen, wie der Entstehung der Psychiatrie, der Antikriegsbewegung und der zweiten Frauenbewegung. Viel Wissen über die Entstehung und Behandlung psychischer Traumata ging wieder verloren, weil es gesellschaftspolitisch nicht opportun war. Vieles musste später wieder neu entdeckt werden. Bei diesen Phasen des Vergessens und der Wiederentdeckung spielen gesellschaftliche Faktoren und psychische Abwehr zusammen.

Wenn wir uns mit der Geschichte der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit psychischer Traumatisierung befassen, stossen wir auf einige sehr interessante Phänomene.
Zunächst mag es erscheinen, als ob die Auseinandersetzung mit diesem Thema doch sehr neu sei: vielen mag es so scheinen, also ob sie irgendwann Anfang der achtziger Jahre begonnen habe.

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass es schon viel früher wissenschaftliche Arbeiten gab, die sich mit psychischen Verletzungen und ihren Folgen befassten. Es gab mehrere Phasen von Forschungstätigkeit. Die Arbeiten, die während dieser Phasen entstanden, führten oft zu Ergebnissen, die weiterreichende Konsequenzen nahelegten und auch heute noch aktuell sind.
Die Ergebnisse dieser Arbeiten gingen aber auf verschlungenen oder weniger verschlungenen Wegen wieder verloren, sie wurden vergessen und mussten später wieder neu erarbeitet werden.

Dieser auf den ersten Blick seltsame Wechsel von Forschungstätigkeit und Vergessen hat viel mit dem Forschungsgegenstand psychische Traumatisierung zu tun. Das Thema weckt Abwehr. Diese Abwehr hat auch gesellschaftliche Hintergründe.

Wenn es bei Traumatisierungen nicht um Folgen von Naturkatastrophen oder um Geschehnisse ausserhalb unseres Kulturkreises geht, wo wir mit Mitleid reagieren können, sondern um Handlungen, die Menschen in unserem Kulturkreis einander antun, stehen wir zwischen Opfer und Täter.  Unsere Werte und Normen werden in Frage gestellt. Es scheint dann leichter, schreckliche Ereignisse zu bagatellisieren, sie nicht wahrhaben zu wollen, die Berichte des Opfers nicht zu glauben, oder diesem selbst die Schuld zu geben.  Dies schützt davor, sich der Vorstellung stellen zu müssen, selbst verletzbar zu sein. Dies ist aber auch das Verhalten, welches die Täter oder Täterinnen fördern: sie wollen ihre Taten und deren Folgen geheim halten und verschweigen, sie leugnen ab und behaupten, das Opfer lüge, übertreibe oder simuliere.  Wie wir sehen werden, gibt es auch starke gesellschaftliche Kräfte, die einer Auseinandersetzung mit Traumata Widerstand entgegenstellen.

 

Die Erforschung der Ursachen der Hysterie
Ueber Jahrhunderte wurden Menschen ausgegrenzt, verwahrt, oder als Irre eingesperrt, wenn sie psychisch litten oder erkrankt waren und auffällig wurden. Unwissen über psychische Vorgänge führte dazu, solche Menschen abzusondern. Frauen und Kinder, die von seltsamen Erfahrungen berichteten, von denen wir heute annehmen würden, dass es sich möglicherweise um sich aufdrängende Erinnerungen an traumatische Erfahrungen sexueller Ausbeutung handeln könnte (Flashbacks), wurden als Hexen oder als Hexenkinder verfolgt und umgebracht.

Erst im 19. Jahrhundert wurde in den Verwahrungsanstalten vermehrt mit wissenschaftlichen Untersuchungen über Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten psychischer Erkrankungen begonnen. Die Forscher standen in der Tradition der Aufklärung, sie wollten das Leiden, dem sie begegneten entmystifizieren und mit ihrer Arbeit zum Sieg der Aufklärung über reaktionären Aberglauben beitragen.
Eine erste gut dokumentierte Forschungsphase zum Thema psychische Traumatisierung fand Ende des 19. Jahrhunderts statt.
Bei der Erforschung des Krankheitsbildes Hysterie, das zu jener Zeit weit verbreitet war, konnte der französische Neurologe Jean-Martin Charcot 1880 beweisen, dass die Symptome unter denen die Hysterikerinnen litten, psychisch bedingt waren. Bei der Suche nach den Ursachen entdeckten Pierre Janet in Frankreich, sowie Sigmund Freud und Josef Breuer in Wien in der Mitte der neunziger Jahre fast zeitgleich, dass Hysterie ein Zustand ist, der durch psychische Traumata verursacht wird (Herman 1994,22).

Die Patientinnen berichteten immer wieder von Erinnerungen an sexuelle Uebergriffe, Misshandlungen und Inzest in der Kindheit. In der Zeit um die Jahrhundertwende erschien dieses Ergebnis schlichtweg ungeheuerlich und unvorstellbar. Dennoch stiess Freud immer wieder auf diesen Zusammenhang.
Da Hysterie weit verbreitet war, hätte dies bedeutet, dass sexuelle Ausbeutung ein weit verbreitetes Phänomen war. Freud löste dieses Problem schliesslich so, dass er seine empirischen Befunde uminterpretierte: seine Patientinnen mussten wohl sexuelle Phantasien haben, die sie nicht zulassen durften, und gegen die sie dann Abwehrformen entwickelten.
Damit war es nun möglich, die hysterischen Symptome als Symptome der Abwehr unzulässiger, Schuld- und Schamgefühle weckender Phantasien zu interpretieren. Sie mussten so nicht mehr Folge einer realen psychischen Verletzung, eines traumatisierenden sexuellen Uebergriffes sein. Aus einer von aussen auf das Individuum einwirkenden psychischen Verletzung war die Folge eines innerpsychischen dynamischen Vorgangs geworden.

Nach der Jahrhundertwende kam die Erforschung psychischer Traumata zunächst zum Stillstand. Die Forscher hatten die rätselhaften Ursachen der Hysterie finden, und damit diese Krankheit entmystifizieren wollen, die Entdeckung des Zusammenhangs von Hysterie und sexueller Ausbeutung in der Kindheit ging jedoch zu weit.

 

Die Schrecken des Krieges
Während des Ersten Weltkrieges wurden Aerzte und Psychiater mit einem neuen Phänomen konfrontiert. Viele Soldaten brachen unter der dauernden Todesbedrohung, der täglichen Angst, den grauenhaften Erfahrungen psychisch zusammen. Sie zitterten, schrien und weinten, reagierten nicht mehr, wurden stumm, konnten sich nicht mehr bewegen oder verloren ihr
Gedächtnis (Herman 1994,34).

Für dieses Zustandsbild wurde der Begriff “Kriegsneurose” gebildet. Waren die Soldaten, die dieses Bild entwickelten, nun Nervenschwache, Neurastheniker, überspannte Individuen, waren es Simulanten, Feiglinge oder Schwächlinge? Viele Experten waren davon überzeugt. Auf jeden Fall schien dieses Verhalten unmännlich. Manche vertraten den Standpunkt, dass diese
Männer vor ein Kriegsgericht gestellt werden müssten, oder zumindest unehrenhaft aus der Armee entlassen werden sollten. Fortschrittliche Psychiater betonten dagegen, eine Kriegsneurose sei eine echte psychiatrische Krankheit, und versuchten auch, diese durch therapeutische Behandlung zu heilen.

Obwohl viele Soldaten mit psychischen Schädigungen aus dem Krieg zurückgekehrt waren, verschwand das medizinische Interesse am Phänomen Kriegsneurose und damit am Thema psychische Traumatisierung schon wenige Jahre nach Kriegsende. Für das Entsetzen über den Krieg war in einer militarisierten, nationalistischen Gesellschaft, die das Heldentum verehrte, kein Platz. Solche Kriegsfolgen passten nicht zum Bild vom heldenhaften Soldaten, zum Mythos vom Krieg und seinen Helden.

Im zweiten Weltkrieg erwachte das medizinische Interesse an Kriegsneurosen erneut, denn wieder erlitten viele Soldaten psychische Zusammenbrüche. Erstmals wurde nun erkannt, dass jeder Soldat zusammenbrechen konnte. Im Mittelpunkt der Forschungsanstrengungen standen deshalb die Fragen, was vor einem akuten Zusammenbruch schützen könnte, und wie mit einer
möglichst kurzen Behandlung die Kampffähigkeit schnell wiederhergestellt werden könnte.
Behandlungsmethoden mit durch Hypnose oder Medikamente veränderten Bewusstseinszuständen galten als erfolgreich, ebenso wurde die heilsame Wirkung wieder entdeckt, die das nochmalige Durcharbeiten der traumatischen Erfahrung haben kann (Herman
1994,41). Nach Kriegsende setzte dann wieder das bereits bekannte Vergessen ein, niemand interessierte sich für die Langzeitfolgen der Kriegstraumatisierungen.
Auch während des Vietnamkriegs in den sechziger und siebziger Jahre gab wieder viele psychischen Zusammenbrüche bei den Soldaten. Während dieses Krieges war allerdings die gesellschaftliche Situation anders als während der Weltkriege. Es gab nicht mehr nur den patriotischen Heldentaumel, in dem alle abweichenden Reaktionen als unpatriotisch und schwächlich angesehen wurden. Diesem Krieg stand eine starke Opposition entgegen. In der Bewegung der Antikriegsveteranen hatten sich ehemalige Soldaten organisiert, die selbst in Vietnam gewesen waren.
Diese Veteranenbewegung organisierte Selbsthilfe- und Gesprächsgruppen. Rehabilitationsprogramme wurden eingerichtet. Die Bewegung war politisch so einflussreich, dass die Folgen der Kriegstraumatisierungen dieses Mal nicht wieder vergessen werden
konnten.

 

Der Beitrag der Frauenbewegung
Ende der sechziger Jahre entwickelten sich auch neue Sichtweisen für ein menschliches Zusammenleben. Zunächst in Nordamerika, dann auch in Westeuropa entwickelte sich eine neue Bewegung von Frauen, die sich gegen patriarchalische Gesellschaftsstrukturen zur Wehr setzten. In den Gruppen der Frauenbewegung konnte zum ersten Mal über sexuelle
Ausbeutung, Vergewaltigung, Gewalt und Unterdrückung durch Männer gesprochen werden.
Bedingungen und Umstände, die das Leben vieler Frauen überschatten und prägen, über die aber aus Konvention und Scham vorher nicht geredet werden durfte. In diesen Gruppen wurde deutlich, wie weit verbreitet Gewalt im sexuellen und familiären Bereich ist.

1971 wurde in den USA das erste Zentrum für Vergewaltigungsopfer eröffnet, als Selbsthilfeeinrichtung. 1972 untersuchten Ann Burgess und Lynda Holmstrom die psychischen Folgen von Vergewaltigung. Sie fanden ein Muster psychischer Reaktionen, das sie Vergewaltigungstraumasyndrom nannten. “Frauen, so stellten sie fest, erleben eine Vergewaltigung als lebensbedrohendes Ereignis, da sie gewöhnlich während des Ueberfalls Verletzung und Tod zu fürchten hatten.”(Herman 1994,49).
Susan Brownmiller wies 1975 in ihrem Buch “Gegen unseren Willen”(deutsch: 1980) darauf hin, dass Vergewaltigung ein Mittel zur Einschüchterung und damit zur Sicherung der Männerherrschaft war.
Nach buchstäblich Jahrtausenden des Schweigens vervielfachten sich ab Mitte der siebziger Jahre die Forschungsarbeiten über sexuelle Ausbeutung und Gewalt.
Versteckte männliche Gewalt, sexuelle Ausbeutung von Kindern, häusliche Gewalt, andere Formen von Misshandlung waren weitere Thema die öffentlich wurden, die skandalisiert und damit dem Schweigetabu entrissen wurden. “Die Ergebnisse dieser Untersuchungen bestätigten, dass die Erfahrungen der Frauen, die Freud hundert Jahre zuvor als Phantasien abgetan hatte, Realität waren” (Herman 1994,47).

 

Die Anerkennung als Krankheitsbild
Durch die Bemühungen der Kriegsveteranen war der Begriff des posttraumatischen Syndroms etabliert worden. Durch den Anstoss der Frauenbewegung war immer deutlicher geworden, dass Opfer von Vergewaltigung, häuslicher Gewalt und Inzest, unter den im wesentlichen gleichen Symptomen wie die Opfer von Kriegstraumatisierungen litten. Aehnliche Symptome zeigten auch Folteropfer und Opfer von Naturkatastrophen.
Diese Störungen waren nach dem auslösenden Ereignis genannt worden, also beispielsweise KZ-Syndrom, Kriegsneurose oder Vergewaltigungstraumasyndrom.

Erst 1980 wurden die psychischen Folgen traumatischer Erlebnisse unter dem Namen Post-traumatic Stress Disorder (PTSD) (Posttraumatische Belastungsstörung PTBS) durch die Aufnahme ins Diagnosemanual DSM-III der American Psychiatric Association APA (1980) als Krankheitsbild anerkannt. Dabei ist die Posttraumatische Belastungsstörung bis heute eine der
wenigen im DSM aufgeführten Erkrankungen, deren Symptome direkt mit einem psychosozialen Ereignis zusammenhängen.

 

Wie geht es weiter?
Zur Zeit erleben wir eine eher reiche Forschungstätigkeit zu psychischer Traumatisierung und eine rege gesellschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema, vor allem mit dem Aspekt sexueller Traumatisierungen. Es gibt Forschungen zu den Folgen von Unfällen und Naturkatastrophen, es gibt Ansätze im Rahmen der Holocaust-Forschung zur Frage, wie traumatische Erfahrungen unter Umständen über Generationen weitergegeben werden (z.B. Bergmann u.a. 1995). Ein weiterer Forschungsbereich betrifft die Arbeit mit Folteropfern (z.B. Basoglu 1992).

Es entstand ein Hilfenetz für Opfer von Traumatisierungen. Die Finanzierung von Frauenhäuser, Frauennotrufen und Beratungsstellen wurde über viele Jahre politisch erkämpft. Gegenwärtig entstehen Notdienste, die sich um Traumaopfer kümmern sollen. Erste Unterstützungsangebote für RettungssanitäterInnen oder Feuerwehrleute, die in ihrer Arbeit traumatisiert werden können, werden aufgebaut.
Weltweit wurden Zentren zur Behandlung von Folteropfern gegründet, in Ländern, in denen politische Repression herrschte, ebenso wie in Ländern, in denen politisch Verfolgte Asyl fanden. In der Schweiz besteht seit 1995 in Bern ein erstes Therapiezentrum für Folteropfer (1997).

Es gibt neuere Ansätze, traumatische Ereignisse in der sozialen Gruppe aufzuarbeiten (Perren 1995), und es werden neue therapeutische Interventionen vorgestellt, die speziell für die Therapie von Traumaopfern entwickelt wurden (Shapiro 1995). Die Geschichte des Umgangs mit dem Wissen über psychische Verletzungen, die Menschen einander zufügen, ist auch eine Geschichte der Abwehr des Wissens um die gesellschaftlichen Ursachen und Folgen dieser Verletzungen. Es scheint so, als ob der derzeitige Wissensstand nicht wieder in Vergessenheit geraten könnte.
Allerdings gibt es auch jetzt gesellschaftliche Interessengruppen, denen ein solches Vergessen sehr entgegenkäme. Im Umgang mit sexueller Ausbeutung in der Kindheit gibt es Bagatellisierungstendenzen, der Umgang mit dem Thema Folter ist immer wieder von Verleugnung geprägt.  Gewalt gegen Frauen ist weiterhin in vielen Ländern Alltag.

Literatur

  • American Psychiatric Association APA, Diagnostical and statistical manual of mental disorders, DSM-III; Washington 1980
  • Basoglu M (Hg), Torture and its consequences: current treatment approaches, Cambridge 1992
  • Bergmann M S, Jucovy M E, Kestenberg J S (Hg), Kinder der Opfer - Kinder der Täter, Psychoanalyse und Holocaust, Frankfurt am Main 1995
  • Brownmiller S, Gegen unseren Willen, Vergewaltigung und Männerherrschaft, Frankfurt 1980
  • Herman J L, Die Narben der Gewalt, München 1994
  • Perren G (Hg), Trauma. Vom Schrecken des Einzelnen zu den Ressourcen der Gruppe, Bern Stuttgart Wien 1995
  • Shapiro F, Eye movement desensitization and reprocessing: Basic principles, protocols, and procedures, New York 1995
  • Therapiezentrum SRK für Folteropfer (Hg), Jahresbericht 1996, Bern 1997, Raimund Dörr, 1997